Eine Stadtführung durch die queere Berliner Sex-Geschichte!
Schon in den 1920ern war Berlin Europas queere Hauptstadt. Stadtführer Jeff Mannes zeigt, warum.
Berlin wird oft nachgesagt, die sexuell am meisten aufgeladene Stadt der Welt zu sein. Die Deutschen seien “Europe’s kinkiest nation” und Berlin die unangefochtene queere Hauptstadt Europas. Damit blickt Berlin auf eine lange Tradition zurück. Schon in den 1920er Jahren war Berlin queerfreundlich, sex-positiv – und damit vielen anderen Städten weit voraus. Zeichen dieser Zeit können überall in der Stadt wiederentdeckt werden, auch in Schöneberg, einem der queeren Zentren. Bei der Stadtführung “Berlin’s History of Sex” wird dieser unglaubliche, spannende und manchmal auch tragische Teil der Berliner Geschichte wieder lebendig. Ein paar Highlights verrät der Autor und Guide Jeff Mannes aber schon hier, in Form einer literarischen Stadtführung.
Claire Waldoff im lesbischen Toppkeller
Erste Station der Tour ist die Schwerinstraße 13, nicht weit entfernt von den U-Bahnhöfen Nollendorfplatz und Bülowstraße im Stadtviertel Schöneberg. Heute steht dort ein unscheinbares Wohngebäude. Kaum zu glauben, dass genau hier einmal die berühmteste und berüchtigtste lesbische Bar der 1920er stand: Der Toppkeller. Das Gebäude, in dem der sich einst befand, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört.
Der Toppkeller war nur eine von insgesamt rund 85 Lokalen für lesbische und bisexuelle Frauen im Berlin der 1920er Jahre. Neben “Bubis” (Butch-Lesben in maskuliner Kleidung), “Garçonnes” (junge Lesben in eleganter französischer Mode für Männer), “Gauner” (sexuell abenteuerlustige und dominante Frauen) und Dominas für die männlichen Besucher verkehrte hier auch regelmäßig Claire Waldoff. Deutschlands berühmteste Lesbe ihrer Zeit war eine beliebte Sängerin – bis die Nazis versuchten, ihre Karriere zu beenden. Gerüchten zufolge soll sie sogar eine Affäre mit Marlene Dietrich gehabt haben, die demzufolge ebenfalls öfter im Toppkeller zu Gast war. Marlene Dietrich ihrerseits war eine der einflussreichsten Mode-”Influencer*innen” des 20. Jahrhunderts. Sie machte die typische lesbische Berliner Mode – Frauen in Anzug, Krawatte, Hosen und Zylinder – weltberühmt!
Christopher Isherwoods schwule Freiheit
Nur wenige Schritte vom ehemaligen Toppkeller entfernt wird die Schwerinstraße zur Nollendorfstraße – und damit zu einem weiteren Schauplatz queerer Stadtgeschichte.
Mit der Einführung des berüchtigten Paragraphen 175 im Jahr 1872 wurde Sex zwischen Männern in ganz Deutschland illegal. Im Berlin der 1920er Jahre jedoch wurde dieser Paragraph größtenteils ignoriert. Schon vor 100 Jahren zogen deshalb unzählige queere Männer in die deutsche Hauptstadt. Unter ihnen war der junge Christopher Isherwood, der später mit seinen Romanen, die im Berlin kurz vor der Machtübernahme der Nazis spielen, zu einem der einflussreichsten Schriftsteller*innen des 20. Jahrhunderts avancieren sollte. Im Jahr 1929 bezog er eine Wohnung in der Nollendorfstraße 17.
Bewusst ließ Isherwood sein wohlbehütetes Leben in Großbritannien zurück, um im wilden Berlin ein freies, schwules Leben führen zu können. Genug Auswahl hatte er jedenfalls: Bis zu 120 Lokale für schwule und bisexuelle Männer soll es zwischen 1919 und 1933 gegeben haben. Besucht wurden die von den unterschiedlichsten Männern, die verschiedenen Kategorien zugeordnet wurden. “Baumstümpfe” waren Männer mittleren Alters, die in Bars der Arbeiterschicht Stricher beobachten, wie sie Kunden abschleppten; “Gesellschaftsherren” waren das, was wir heute “Bären” oder “Otter” nennen, also sehr behaarte Männer; und als “Breslauer” bezeichnete man Männer mit überdurchschnittlich großen Penissen.
Diese untergegangene Welt wird heute noch in Isherwoods Romanen lebendig – und in Stadtführungen. In den Straßen selbst jedoch sind kaum noch Hinweise auf diese Zeit zu finden. So ist zwar ein Schild neben dem Hauseingang von Isherwoods damaliger Wohnung in der Nollendorfstraße angebracht, das an ihn erinnert. Doch mit wem er sich diese Wohnung teilte, verrät es nicht. Seine Mitbewohnerin war nämlich Jean Ross, eine Cabaret-Sängerin, die zur Inspiration für die Figur der Sally Bowles in Isherwoods Büchern wurde. Jahre später wurde sie von Liza Minnelli im Musical „Cabaret“ verkörpert! Im Jahr 1933 floh Isherwood vor den Nazis mit seinem damaligen Partner Heinz Neddermeyer aus Deutschland, zog in Europa umher und ließ sich schließlich in Kalifornien nieder. Sein Partner wurde jedoch von den Nazis gefasst und landete im Gefängnis.
Gender-Diversität im Berghain der 1920er Jahre
Nicht weit von Isherwoods Wohnhaus verkündet ein Schild über dem Eingang eines Bioladens in der Motzstraße 24: „Speisekammer im Eldorado“. Die Motzstraße ist gewissermaßen die schwule Hauptstraße Berlins. Was das Eldorado aber war, bleibt offen. Dabei war es gewissermaßen das „Berghain seiner Zeit“: ein weltberühmter Club. Die Philosophie des Eldorado vermittelte ein über die gesamte Länge der Fassade angebrachtes Schild. Es zeigte zuerst ein heterosexuelles Paar beim Tanz, anschließend ein schwules, dann ein lesbisches und ein “Transvestiten”-Paar, einen Dreier-Tanz und ganz zum Schluss dann einen Mann, der mit dem “perversen Pudel” tanzte – so nannte man das auf dem Schild abgebildete Tier.
“Transvestit” war damals ein Sammelbegriff für Menschen, die wir heute differenzierter unter anderem als trans* Personen, Drag Queens, Drag Kings, nicht-binäre und gender-nonkonforme Menschen und Crossdresser bezeichnen würden. Das Eldorado war eines der beliebtesten Lokalitäten bei diesen Menschen und weltberühmt für das, was wir heute wohl Drag-Shows nennen würden. Und die zogen Schaulustige aus allen Ecken der Welt und aus allen politischen Lagern an! Selbst der Chef der nationalsozialistischen SA und Adolf Hitlers enger und offen schwuler Freund Ernst Röhm besuchte den Club regelmäßig.
Um den Club ranken sich zahllose Legenden. Angeblich soll das US-amerikanische Vogue-Magazin einmal einen Journalisten nach Berlin geschickt haben, um Berlins schönste Frau zu finden. Doch nirgendwo fand der eine, die seinen Ansprüchen gerecht wurde. Er bekam den Tipp, es doch mal im Eldorado zu versuchen. Und tatsächlich: er entdeckte eine wahnsinnig schöne Frau, schrieb über sie, und ließ die Vogue den Text drucken, ohne je aufzuklären, dass Berlins schönste Frau eine Drag Queen ist! Leider wurde das Eldorado bereits 1932 geschlossen. Kurze Zeit später zogen die Nazis ein. Aus einem Ort sexueller und geschlechtlicher Freiheit wurde ein mit Hakenkreuzen und anderen Nazi-Symbolen bedecktes Gebäude.
Die Geburt der Sexualwissenschaft und der modernen LSBTIQ-Bewegung
Nördlich des Kiezes um den Nollendorfplatz dehnt sich bis zur Spree der Tiergarten aus. An deren nach Magnus Hirschfeld benanntem Uferabschnitt erinnert ein Denkmal an die weltweit erste Emanzipationsbewegung queerer Menschen. Es steht exakt am Standort des 1919 gegründeten Instituts für Sexualwissenschaft, dem ersten Institut dieser Art. Sowohl das Institut wie die Emanzipationsbewegung wurden mitgeprägt durch Hirschfeld. International bekannt wurde er für seine Theorie der sexuellen Zwischenstufen. Schon vor rund 100 Jahren betrachtete er Geschlecht als Kontinuum, nicht als Binarität von Mann und Frau. Als “sexuelle Zwischenstufen” bezeichnete er Menschen, die zwischen den extremen Polen von Mann und Frau lagen.
In seinem Institut unterzog sich die intergeschlechtliche und bei der Geburt dem männlichen Geschlecht zugewiesene Lili Elbe als eine der weltweit ersten Personen einer geschlechtsangleichenden Operation. Verfolgte Menschen der LSBTIQ-Community konnten in Hirschfelds Institut Zuflucht finden, wo er auch sogenannte “Transvestiten-Zertifikate” ausstellte, die es Menschen in Berlin erlaubte, öffentlich in den Kleidern aufzutreten, in denen sie sich wohl fühlten. Und zwar auch dann, wenn diese nicht dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht entsprachen. Ohne Zertifikat drohte ansonsten die Verhaftung durch die Polizei wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“.
Auch ansonsten war das Institut fortschrittlich. Es gab ein „Sex-Museum”, in dem Besucher*innen Ausstellungsstücke wie Masturbationsmaschinen, Sexpuppen oder BDSM-Zeichnungen bewundern konnten. Und wer wollte, konnte frühe Formen von Viagra kaufen.
Magnus Hirschfeld war Jude und deswegen bereits früh Zielscheibe nationalsozialistischer Propaganda. Im Jahr 1933 floh er mit seinen beiden Partnern vor einer Festnahme nach Frankreich, wo er zwei Jahre später starb. Das Institut wurde sofort nach deren Machtübernahme von den Nazis angegriffen und alle Papiere, Bücher und Studien bei der nationalsozialistischen Bücherverbrennung zerstört. Zwei Jahre später verschärften die Nazis den Paragraphen 175 und begannen, nicht nur schwule und bisexuelle Männer, sondern alle queeren und trans* Menschen zu verfolgen und viele von ihnen zu ermorden. Nach dem Ende des Krieges sollte es mehr als zwei Jahrzehnte dauern, bis sich (West-)Berlin langsam wieder in ein Zentrum queeren Lebens verwandelte – so wie wir es heute kennen.
Weitere Informationen
Jeff Mannes ist Stadtführer. In dieser Audio-Stadtführung weiht er die Journalistin Manuela Kay in die Geheimnisse der queeren Schöneberger Geschichte ein – viel Sex inklusive. Hör mal rein! Und wenn du noch mehr über „Berlin’s History of Sex” erfahren möchtest, buche eine Tour (englisch, deutsch auf Anfrage) auf Jeffs Website oder auf Tripadvisor.
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