Audre Lorde, Katharina Oguntoye und May Ayim: Lesbische und feministische Kämpfe Schwarzer Frauen in Berlin

Anfang 1984 stieg Audre Lorde zum ersten Mal in Berlin-Tegel  aus dem Flugzeug. Einer ihrer ersten Sätze sei laut einer Freundin gewesen: „Wo sind die Schwarzen Deutschen?“ Sie sollte vergeblich auf eine Antwort warten. Eine organisierte Schwarze Community war damals in Deutschland noch nicht bekannt. Lorde machte sich also auf die Suche – zu Fuß, auf den Berliner Straßen. So begannen die „Berliner Jahre“ und der Beginn einer Ära für Lorde. Lorde bezeichnete sich selbst als Schwarz, lesbisch, Feministin, Kriegerin, Dichterin und Mutter und war eine Afrikanisch-karibisch- amerikanische Lyrikerin und Aktivistin. Am 18. Februar 1934 wurde sie als jüngste Tochter von zwei Trinidadischen Einwanderer*innen aus der Arbeiter*innenklasse geboren.

Die Schriftstellerinnen Audre Lorde und May Ayim in Berlin-Schöneberg.

Schriftstellerin von Anfang an

Schon mit 5 Jahren fing sie leidenschaftlich an zu schreiben und entdeckte ihr Talent, als Denkerin und Schriftstellerin zu arbeiten. Als junge Erwachsene entschied sie sich nach langem Überlegen, die Harlem Writers Guild, eine junge Organisation afroamerikanischer Schriftsteller*innen zu besuchen. Später würde Lorde sie als „intellektuelle Heimat“ bezeichnen.

Nach der Publikation von Lordes Sammelband Macht und Sinnlichkeit – ihr erstes Werk, das ins Deutsche übersetzt wurde - waren Schwarze deutsche Frauen auf ihre Arbeit aufmerksam geworden. Das war einer der Hauptgründe für Lordes Reise nach Deutschland. Sie war zu einem bekannten Namen in Deutschland geworden  und als sie erfahren hatte, dass Afro-deutsche Frauen sie kennenlernen wollten, hatte sie sich entschieden nach Berlin zu fliegen – ohne zu ahnen, dass sie zu einer Schlüsselfigur für die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland werden sollte. 

Eine tiefe Verbundenheit: Audre Lorde und die afrodeutsche Dichterin May Ayim. (mit Erlaubnis von: Dagmar Schulz/FFBIZ via Digitales Deutsches Frauenarchiv)

May Ayim: Lyrikerin, Aktivistin, Vorbild

Im Sommersemester 1984 begann sie als Gastprofessorin im JFK-Institut an der Freien Universität in Zehlendorf einen Creative Writing Kurs zu leiten und inspirierte von da an zahllose Afrodeutsche Frauen. Lorde motivierte sie dazu, endlich laut zu werden und sich auch mal in den Vordergrund zu stellen.

Eine dieser Frauen war May Ayim. Sie kam 1960 auf die Welt, wuchs erst im Waisenhaus und dann unter dem Namen Opitz bei weißen Adoptiveltern auf. Ihre Kindheit und Jugend beschrieb sie als bedrückend: Sie sei von Angst, Gewalt und dem knallharten Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft geprägt gewesen. Später nahm sie den Nachnamen ihres leiblichen Vaters an und zog Anfang der 1980er nach Berlin. In den kommenden Jahren wurde sie zu einer der bekanntesten Afrodeutschen Lyriker*innen und stellte mit ihren Gedichten und ihrem Aktivismus das Deutschland der 90er Jahre auf den Kopf – Seite an Seite mit ihren Weggefährtinnen Audre Lorde und Katharina Oguntoye.

Katharina Oguntoye im Jahr 2019 in Berlin

Katharina Oguntoye: Eine ostdeutsche Schwarze Frau, die Frauen liebt

Katharina Oguntoye wurde 1959 in der Frauenklinik in Zwickau geboren. Es sei ein schöner Tag gewesen, schrieb Oguntoye später im Sammelband Farbe bekennen. Ihre Familie hätte sich sehr über ihre Geburt gefreut. Die Industriestadt, an den Ausläufern des Erzgebirges liegt eine kurze Zugstunde von Leipzig entfernt und würde Oguntoyes erstes Zuhause werden. Gerade mal drei Wochen alt zog Katharina nach Leipzig. Hier verbrachte sie die nächsten sieben Jahre ihres Lebens. Als Ostdeutsche Schwarze Frau genoss sie eine eher ungewöhnliche Kindheit für ein Schwarzes Deutsches Kind. Denn in Leipzig gab es in den 60ern und 70ern eine rege afrikanische Studentenszene (es ist auszugehen, dass damals nur Männer zum Studieren nach Deutschland gereist sind). Also wuchs sie schon im Kindesalter in einem sowohl weißen als auch Schwarzen Umfeld auf. Für Katharina war die Stadt ein Ort voller Erinnerungen und Gefühle, ein Ort an dem sie „Liebe erfahren habe und selbst lernte zu lieben“. Seit sie sieben Jahre alt war, zog Katharina mehrere Male um: Zuerst nach Nigeria, in das Land ihres Vaters. Dann mit ihrer Mutter nach Heidelberg, wo ihre Schwester zur Welt kam. Einen Bruder hatte sie auch, der blieb beim Vater. Für Katharina war das Deutschland, in das sie zurückkehrte, nicht dasselbe, das sie zurückgelassen hatte.

1982 ging Katharina nach West-Berlin, um genau zu sein nach Kreuzberg. Dort holte sie an der Kreuzberger Schule für Erwachsenenbildung ihr Abitur nach und studierte Geschichte. Zum ersten Mal bot sich für sie ein Gefühl von Selbstermächtigung und Wahrnehmung, mit und durch andere Frauen. Sie ging in Lesbenbars, musste sich überfordert mit privaten Telefonsexgesprächen auseinandersetzen und ging feiern. Und selbstverständlich durfte der obligatorische Crush auf ihre beste Freundin auch nicht fehlen. Katharina sagt später in einem Interview, dass „sie als letzte wusste“, dass sie lesbisch war. Real wurde es, als sie mit einer Frau auf ein Konzert ging, die sie fragte, ob sie jetzt „out“ sei. Die queere Motivation, nach Berlin zu ziehen, beschrieb sie als „unbewusst“. Tief in sich wusste sie aber, dass sie Teil der Lesbenszene sein wollte. 1982 beschreibt Oguntoye als ihr „Coming-Out-Jahr“. Da war sie 22 Jahre alt.

Bis heute ein Vorbild: Katharina Oguntoye

Ein Outing unter Weißen

Berlin war für sie und viele andere ein Wohlfühlort, eine Utopie, um dort ihr „Coming-Out zu leben“, sagte sie auch später in einem Interview. Dieses Coming Out lebte sie durch das Tragen von lila Latzhosen, Holzfällerhemden und kurzen Haaren sowie der „Labrys“, auch bekannt als doppelschneidige Axt: ein Erkennungssymbol unter Lesben. Die Stadt war voll mit neuen Orten für Frauen von Frauen, die sich gegen die Diskriminierung der (lesbischen) Frau einsetzen wollen. Jedoch waren die Räume, in denen für die Befreiung der Frau gekämpft wurde, voll mit Frauen, die sowieso zur gesellschaftlichen Mehrheit gehörten: weiße Frauen. Katharina sagt heute, dass Rassismus noch ein Thema war, das entweder totgeschwiegen oder abgewiegelt wurde. Auch in Liebesbeziehungen wurde ihr das zum Verhängnis, da ihr Schwarzsein oftmals von Partner*innen nicht „gesehen“ und somit nicht beachtet wurde. In Interviews witzelt Oguntoye gerne, dass sie ihre Partnerin erst “importieren” musste: Die kanadische Autorin Carolyn Gammon lernte sie in den 80ern auf der feministischen Buchmesse in Montréal kennen. Ihre Partnerin habe sich im Gegensatz zu den meisten weißen deutschen Feminist*innen bereits zuvor mit Antirassismus beschäftigt gehabt. Die beiden Aktivistinnen verliebten sich, zogen zusammen und hatten später auch einen gemeinsamen Sohn, den sie am Görlitzer Park großzogen.

"Farbe bekennen" ist heute ein Standardwerk, in den 80ern war es revolutionär. Katharina Oguntoye (2.v.l. hinten), May Ayim (1.v.r.) haben es herausgegeben. (Dagmar Schulz/FFBIZ via Digitales Deutsches Frauenarchiv)

"Farbe bekennen": Ein Buch über Schwarze feministische Geschichte in Deutschland.

Als Oguntoye Lorde 1894 an der Berliner Universität sprechen hörte, habe sie mit Überraschung und Zurückhaltung gekämpft. Noch nie hatte sie jemanden kennengelernt, die in einer Lesung alle weißen Frauen aufforderte, den Raum zu verlassen. Diese klare Haltung und Sicherheit übertrug sich auf Katharina und machte ihr Mut. Schließlich fasste sie genug Vertrauen, aus der Isolation herauszutreten und privat über ihre eigenen Erfahrungen als Afrodeutsche Frau zu erzählen. Geschichten über Rassismus, Sexismus und Homophobie. In der Zeit lernten sich auch Ayim und Oguntoye kennen und entwickelten eine schwesterliche Verbundenheit.

Im Jahr 1986 gründeten die beiden gemeinsam mit einer weißen Freundin und Verbündeten Dagmar Schultz das Schwarze Frauenarchiv. Die Filmemacherin wurde fortan ein wichtiger Bestandteil des Archivs. Lorde ermutigte die beiden, ihr eigenes Buch über die Erfahrung Schwarzer Frauen in Deutschland zu schreiben. Ein wichtiger Ort für die Bewegung war das Berliner Frauenzentrum “Schokofabrik”, im Herzen von Kreuzberg an der Mariannenstraße 6. Kurze Zeit später entstand das Standardwerk „Farbe bekennen – Afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“. Die Veröffentlichung schaffte den Kontakt zu Jasmin Eding, einer anderen lesbischen Schwester aus Bayern und so fand das erste inoffizielle Treffen der ADEFRA, mit nur 10 Frauen statt.

In guten wie in schlechten Zeiten: Audre Lorde und May Ayim in einem Berliner Altbau. (Dagmar Schultz/FFBIZ via Digitales Deutsches Frauenarchiv)

Der Tod zweier Ikonen

1992 starb Audre Lorde an ihrer Krebserkrankung, blieb aber über ihren Tod hinaus ein Bindeglied für Schwarze deutsche Frauen. In Lordes Gedenken bauten sie eine diasporische Gemeinschaft mit Emotionen, Sympathien und Schriften auf.

Ayim litt unter Depressionen und wurde kurz vor ihrem Tod mit Multipler-Sklerose diagnostiziert. Die Angst, dadurch nicht mehr schreiben zu können – die eine Leidenschaft, die sie am Leben hielt, war zu überwältigend. Am 9. August 1996 starb sie durch Suizid.

Gedenktafel für May AYim am May-Ayim-Ufer in Kreuzberg

ADEFRA und die Schwarze deutsche feministische Mobilisierung

Schwarze Selbstorganisationen, wie die ISD, nahmen in den 80ern ihren Lauf.. Doch schnell wurde klar, dass auch Safe Spaces für Schwarze queere Frauen hermüssen. Für viele Schwarze deutsche Lesben war Katharina Oguntoye damals schon ein großes Vorbild. Im Jahr 1987 gründete sie mit Jasmin Eding, Katja Kinder, Elke Jank (Ja-El), Eva von Pirch, Daniela Tourkazi und den Schwestern Christina und Domenica Grotke, das erste ADEFRA-Treffen in Utrecht. ADEFRA bedeutet auf Amharisch so viel wie „die Frau, die Mut zeigt“ und setzt den Fokus auf in eine radikale Schwarze feministische Politik, die das Ziel verfolgt, alle Formen der Diskriminierung zu bekämpfen und die Sozialisation ihrer Mitglieder bedingungslos zu bewerkstelligen. Den Frauen war es primär wichtig zu zeigen, „dass die Schwarze Frauenbewegung eigene Erfahrungen, Wertvorstellungen und Zielvorstellungen hat, die auf Notwendigkeit eigener Überlebensstrategien basieren“. Gemeinsam sollte der Schwarze feministische Kampf, Stärke, Identität und ein Schwarzes Bewusstsein in der weißen Gesellschaft schaffen. Im Mittelpunkt der politischen Arbeit von ADEFRA steht bis heute ein queerer Feminismus, der die Organisation zu einem inklusiven Raum machen und Raum für das eigene Erkunden der Sexualität schaffen soll. Die Treffen finden nach wie vor in privaten Räumlichkeiten von Mitgliedern im Westen Berlins statt. Es sind Wohlfühlorte mit Musik, gemeinsamen Essen und ähnlichen kulturellen Werten. Neben May Ayim und Katharina Oguntoye halfen viele weitere Frauen, ADEFRA zu dem zu machen, was sie heute ist. Sehr wichtig für die Bewegung war auch Ika Hügel-Marshall, eine Afroamerikanisch-deutsche lesbische Aktivistin, Künstlerin und Autorin. Weitere Schwarze deutsche Frauen, die heute undenkbar für die ADEFRA und die Bewegung sind, sind Peggy Piesche und Maisha-Maureen Auma.

Katharina und die Schwestern der ADEFRA haben den Weg für ein neues Verständnis von Schwarzem Leben in Deutschland geschaffen. Wir können nur hoffen, dass Ayim, Lorde und andere Schwestern, die zu früh gehen mussten, auf uns Schwarze queere Frauen von heute runterschauen und sehen, dass es nicht mehr „unangebracht ist“ Schwarz zu sein.

Weitere informationen

Anmerkung der Redaktion: Für weiterführende Informationen wird auf den Film "Audre Lorde - The Berlin Years 1984 to 1992" sowie die Audre Lorde in Berlin Online Reise hingewiesen.


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Texte: Amethyste Benoit

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