Seiner Zeit voraus und in seiner Zeit geblieben – der widersprüchliche und mutige Magnus Hirschfeld
„Nicht feiern, sondern arbeiten“, soll Magnus Hirschfeld als Devise ausgegeben haben, als das von ihm gegründete Institut für Sexualwissenschaft sein Jubiläum hatte. Wenn man sich das umfangreiche Werk des Sexualwissenschaftlers und sein einiges an Entbehrungen bereithaltendes Leben anschaut, passt dieses Motto durchaus ins Bild.
1868 wurde Magnus als Sohn des Sanitätsrates Hermann Hirschfeld in Kolberg (heute: Kołobrzeg) geboren. In seinem Elternhaus herrschte der Mix aus liberalem Fortschritts-, Wissenschafts- und Vernunftglauben, preußischem Nationalismus aka „Vaterlandstreue“ und Bildungsehrgeiz vor, der so viele jüdisch-assimilierte Bürgersfamilien in der Tradition von 1848 auszeichnete.
Magnus Hirschfeld war ein engagierter Gymnasiast mit einem Faible für Sprache. Nicht uneitel vermerkte er später, dass seine Teenager-Texte in einer Zeitungsbeilage abgedruckt wurden. Zunächst studierte er Sprachwissenschaften, wechselte dann zur Medizin und wurde 1892 in Berlin zum Doktor promoviert. 1894 landete er in seiner Charlottenburger Wohnung in der Berliner Straße 104 (heute: Otto Suhr Allee 127).
Magnus Hirschfeld: Für immer ungeoutet
Ein Jahr später wurde Oscar Wilde im Mai 1895 der Sodomie für schuldig befunden. Der Prozess wurde breit publiziert und noch breiter war die Einhelligkeit des Hasses auf ein abweichendes Begehren und Männer, die miteinander schliefen. Für Hirschfeld war der Prozess die Zäsur, die ihn zum Aktivisten machte: 1896 veröffentlichte er „Sappho und Sokrates“, eine Streitschrift für die Entkriminalisierung der Homosexualität. Anfangs veröffentlichte er unter Pseudonym, verlor die Schüchternheit in Bezug auf das Öffentlichmachen seiner Position jedoch rasch. Am 15. Mai 1897 gründete er gemeinsam mit dem Schriftsteller Franz Joseph von Bülow, dem Verleger Max Spohr und dem Juristen Eduard Oberg in seiner Wohnung das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee. Eine der ersten Organisationen weltweit, die sich den „Befreiungskampf der Homosexuellen“ auf die Fahnen schrieb.
Ab da widmete sich Hirschfeld wissenschaftlich der Erforschung der menschlichen Sexualität und kämpfte gleichzeitig politisch für die Abschaffung des Paragraphen 175, der Sex zwischen Männern zum Straftatbestand machte. Seine Position blieb bei beidem prekär: Sexualität als wissenschaftliches Thema galt im repressiven Preußen als dubios und stand immer unter dem Verdacht, Scharlatanerie von perversen Schmutzfinken zu sein. Homosexuelle waren eine kriminalisierte Randgruppe; in deren Nähe sich zu rücken, war bedrohlich für die bürgerliche Existenz.
Wohl auch deshalb entschied sich Hirschfeld dazu, sich nie zu outen. Die grundsätzliche Scheu davor, sich zu offenbaren (man kann sie vielleicht auch als Feigheit einordnen) und das Hängen an der eigenen, noblen „objektiven Beobachter"-Position mögen auch eine Rolle gespielt haben. Ihm gleich taten es viele im Wissenschaftlich-humanitären Komitee und waren zwar im Einsatz für die Emanzipation der Homosexuellen, ihr privates Lieben, Sehnen und Vögeln hielten sie aber verborgen.
Das dunkle Kapitel: Biologie, die schadet
Hirschfeld setzte Maßstäbe für die damalige Sexualwissenschaft: Als Erster entwickelte er empirische Methoden zur Erfassung der sexuellen Orientierung und Phantasien. Seine aus der Empirie entwickelte Theorie der sexuellen Zwischenstufen ging von der Angeborenheit von Homosexualität und den Homosexuellen als drittes Geschlecht aus. Grundsätzlich ging er davon aus, dass in allen Menschen Mischformen von „männlichen“ und „weiblichen“ Anteilen seien.
Diese Theorie ermöglichte einerseits den Weg für trans Personen zu ersten gesellschaftlichen Anerkennungen. Denn sie begriff menschliches Geschlecht nicht als klar binär und unveränderlich. So assistierte Hirschfeld bei der ersten durchgeführten geschlechtsangleichenden Operation von Lilli Elbe.
Andererseits war der Fokus auf die Biologie als Dreh- und Angelpunkt von Begehren auch Grundlage für dunklere Kapitel in Hirschfelds Schaffen: So vermittelte er unglückliche schwule Patienten an Doktor Steinach, der mittels Hodentransplantation versuchte, sie heterosexuell zu machen. (Am Schluss waren sie körperlich geschädigt und weiter unglücklich über ihr Begehren.)
Mit dem Ende des Krieges und der entstehenden Weimarer Republik sah Magnus Hirschfeld seine Chance, endlich die staatliche Anerkennung und Mittel zu bekommen, nach denen er strebte.
Eine Realität im Institut: Kein queerer Partyspace
1919 gründete er das weltweit erste Institut für Sexualwissenschaft. Finanziert aus privaten Mitteln baute er es in einer Villa im Tiergarten (Ecke Beethovenstraße 3/In den Zelten 10) auf. Dort waren sowohl eine Bibliothek, mehrere Praxen, das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee und ein Museum voller Artefakte zu finden.
Doch auch unter der neuen Staatsform blieben weiterhin alle bedroht, die sich für gesellschaftliche Sexualaufklärung und ein Ende der Schwulenverfolgung einsetzten. Besonders Hirschfeld als Jude geriet ins Fadenkreuz der aufkeimenden faschistischen Bewegung, 1918 wurde er nach einem Vortrag in München fast totgeprügelt.
Bei diesem Angriff kam ihm ein kaufmännischer Angestellter in seinen Zwanzigern zu Hilfe. Der Legende nach soll sich dieser dann zu erkennen gegeben haben als einer der Urnischen, von denen Hirschfeld vor Publikum vorher sprach. Der sich so Offenbarende hieß Karl Giese, kündigte nach der Begegnung postwendend seinen Job und wurde Assistent und Lebenspartner von Magnus Hirschfeld.
In den folgenden Jahren wuchs das Institut für Sexualwissenschaft, Hirschfeld arbeitete ununterbrochen. Wenn heute das Institut filmisch auftaucht, wie beispielsweise bei „Transparent“, wird es wie eine Mischung aus queerem Zufluchts- und Lebensort und Partyspace zugleich dargestellt. Wahrheitsgemäß dabei ist, dass viele Queers am Ort arbeiteten. Doch der Alltag im Institut sah eher so aus, dass heterosexuelle Paare vorbeikamen, um sich beraten zu lassen, ob ihr Erbgut so gestaltet ist, dass in ihrem Sinne einwandfreie Kinder herauskommen.
Auch hier zeigt sich wieder die Doppelgesichtigkeit eines Wirkens und Forschens, das mehr Freiheit für so viele bedeutete und zugleich nicht frei von den Zwängen und Furchtbarkeiten der Zeit blieb.
Die letztem Jahre des Lebens: Eine Menage á trois im Exil
Nach einem internen Konflikt verließ Hirschfeld 1929 das Institut und brach 1930 zu einer Weltreise auf, von der er nie mehr nach Deutschland zurückkehren würde. Auf dieser traf er in Shanghai den Medizinstudenten Li Shiu Tong, auch unter dem Namen Tao Li bekannt, der die zweite lange Beziehung seines Lebens wurde. Zu diesem Kapitel seines Lebens und zum Leben und Schaffen von Li Shiu Tong erschien 2022 das Buch von Laurie Marhoefer: Racism and the Making of Gay Rights.
Gemeinsam mit Karl Giese lebten die drei in den letzten Jahren im Exil in einer Menage á trois. Am 6. Mai 1933 wurde das Institut für Sexualwissenschaft durch die Nazis zerstört. 1935 starb der widersprüchliche Pionier und Kämpfer gegen den Paragraph 175 in Nizza.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geriet Hirschfeld zunächst in Vergessenheit, erst die Schwulenbewegung der 70er, 80er und 90er sorgte für ein Erinnern (zum Beispiel die Biographie von Manfred Herzer von 1992) und verhalf Magnus Hirschfeld zu dem Status, den er heute hat.
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Text: Mowa Techen