Rio Reiser: Der leise schwule König von Deutschland
Rio Reiser hat nie einen CSD angeführt. Dem eigenwilligen Musiker war es ein Leben lang unangenehm, vereinnahmt zu werden, als Posterboy eines bestimmten Programms (und sei es ihm auch grundsätzlich sympathisch) herzuhalten. In den vielen Ecken, in denen er unterwegs war, hatte er auch mit der Schwulenbewegung zu tun, auch mal mehr, doch ihr sich zugehörig wollte er sich nicht zählen. Überhaupt blieb ihm alles Vereinshafte suspekt. Und doch und natürlich prägte sein eigenes Schwulsein und seine Auseinandersetzung damit sein Leben.
Ralph Möbius kam in Berlin in der Brückenallee 17 1950 zur Welt, musste diese aber bald wieder verlassen. Der Vater war sozialer Aufsteiger: Er hatte es vom Werkzeugmacher zum Ingenieur bei Siemens gebracht und seine Arbeitsstelle - damit auch der Wohnort der Familie - wechselte häufig. So wuchs der jüngste der drei Möbius-Brüder in Bayern und Baden-Württemberg auf. In einer Familie, in der der älteste Bruder Peter, als Ralph gerade 8 Jahre alt war, schon als Bühnenbildner anfing. Der Mittlere Gert malte. Der Aufstieg des Vaters führte die Familie Anfang der 60er Jahre schließlich nach Nürnberg.
Das erste Begehren
Dort ging Ralph ans humanistische Gymnasium und die Dinge, die ihn sein Leben lang nicht mehr losließen, kamen mit zwölf und dreizehn in sein Leben. Erst fing er an Karl May und die Bibel zu lesen, die beide eine Richtschnur für künftiges Handeln und auch künftiges Verlangen bildeten. Die ersten sexuellen Sehnsüchte tauchten auf und drehten sich um Jungs. Im Rückblick beschreibt er das ganz souverän als „leicht irritierend“. Ob’s so war, darf bezweifelt werden. Mit dreizehn dann las er im Stern, der als Klolektüre bei den Neuköllner Großeltern auslag, von den Beatles. In seiner Autobiographie schreibt er: „Wunderbar, dachte ich. Das isses! […] Und in diesem Augenblick, Anfang Dezember 1963, wusste ich, was mein nächstes Ziel war: Gitarre spielen lernen und mir Leute suchen, mit denen ich Musik machen konnte.“
Schließlich bildeten seine großen Brüder mit Herumtreiber*innen, Kunststudierenden, Jungphilosoph*innen und einem alten Kommunisten ein „Miljöh“, in dem genau das ging: sich Sachen beibringen, Neues ausprobieren, Kunst machen und immer Leute finden, die Bock haben.
Dieses „Miljöh“ war von da an das Wasser, in dem Ralph schwamm. Die Lehrbücher waren Comics, Horror-Romane und Science Fiction Hefte, der Soundtrack die Beat Musik bzw. der Teil der Beat Musik, der man im fränkischen Raum habhaft werden konnte und erzogen wurde man zum in den 60er Jahren sogenannten Schmutz- und Schundsoldaten. Das politische Programm war vage bis nicht vorhanden, aber auf die Ablehnung des Vietnamkrieges, die erklärte Verbundenheit mit gesellschaftlichen Außenseiter*innen und Revolution konnten sich alle einigen.
Ralph war kein Name für einen Rockmusiker
Das erste Projekt war das Hoffmanns Comic Teater (ohne h, denn mit dem schnöden Bildungsbürgertheater hatte man nüscht zu tun). Ralph Möbius nannte sich inzwischen Rio Reiser - nach „Anton Reiser“, der von Karl Philip Moritz erdachten Sehnsuchtsfigur vieler aus der Art geschlagener Teenager. Und gründete gemeinsam mit Ralph Steitz, der sich bald RPS Lanrue nannte (Ralph war wirklich kein Name für einen Rockmusiker, das war Konsens in den 60ern), seine erste Band. Noch wurden vor allem die Dorfkneipen unsicher gemacht und die Großen der Beat-Bewegung in Phantasie-Englisch gecovert. Seine erste Liebe kam mit 16, hieß Harald, sie hingen auf seinem Zimmer herum, tranken Portwein und qualmten, machten Musik und es passierte: nix.
1967 brachte ihn die Freiheit vom Wehrdienst und die erste Beat-Oper der Welt nach Berlin. Robinson 2000 war eine spinnerte Idee vor allem seiner beiden großen Brüder und Rio sollte die Musik dafür schreiben. Die Oper wurde nach ihrer Uraufführung überall verrissen, aber die Möbius-Brüder und das Hoffmanns Comic Teater waren danach in aller Munde. Die erste WG aus Teilen der Truppe gründete sich in der Gutzkowstraße 6. Auch Lanrue war mit von der Partie, Lanrue, in den Rio verknallt war und es aber nicht zugeben wollte. „Irgendwie war ich permanent in Deckung und krampfhaft bemüht, keinen aus der Familie oder aus dem Bekanntenkreis und paradoxerweise erst recht nicht denjenigen, für den mein Herz in Flammen stand, merken zu lassen, dass mit mir 'was nicht stimmte’“, heißt es in seiner Autobiografie.
Fast das gesamte „Miljöh“ siedelte über nach Westberlin. „Wir gehörten eigentlich nirgendwo hin. Weder in die Polit- noch in die reine Künstler-Kultur-Ecke. Ich selbst fühlte mich höchstens zu den Drogenleuten wie Hannibal oder Happy-Dieter hingezogen.“ Rio gründete schließlich mit ein paar anderen gemeinsam die Roten Steine, ein Theater, das Alltagsszenen über scheiß Chefs, scheiß Reiche und was noch so nervt, wenn man jung und in der Lehre ist, spielte. Dem schlossen sich ein Haufen an Lehrlingen an, in den Berliner Steinsetzer Raymond verguckte sich Rio. Doch der Traum von der eigenen Rockband blieb.
Kreuzbergs, Joints und traurige Liebschaften: „Wenn die Nacht am tiefsten…“
Und an einem für Rio ungewöhnlich früh begonnenen Frühlingsmorgen zog er mit einem Tütchen Meskalin und der Mao-Bibel in der Hemd-Tasche, beides harmonierte 1970 in Westberlin wunderbar zusammen, von der Oranienstraße 44, wo er wohnte, in die Goebenstraße. Dort trug er beim Frühstück mit Tee und Joint seine Idee vor, eine eigene Platte zu machen, vorbei an den Plattenfirmen. Gesagt, getan und Ton Steine Scherben waren geboren. Die Band machte zwar keine Kohle (mit Titeln wie „Wir streiken“ und „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ auch eher schwierig), aber sorgte in jeder deutschen Kleinstadt für Aufruhr und meist nach dem Konzert direkt für eine Hausbesetzung. Die waren das neue Mittel, in Kreuzberg erdacht, um den ausgebrochenen Heimkindern und anderen Ausreißer*innen ein Zuhause zu schaffen beziehungsweise sie schufen sich’s selbst, um sich der geplanten Aufwertung Kreuzbergs in den Weg zu stellen.
Schwulsein war in der autonomen Linken der Zeit so mittelbeliebt und Rio Reiser litt darunter. Doch auch in der Schwulenszene fühlte er sich nicht zuhause, es war ihm zu wenig Zärtlichkeit. Die Liebschaften endeten oft unglücklich. Ihm gingen die dogmatischen Studierenden und die Entwicklung von Ton Steine Scherben zur „Jukebox der Linken“ auf die Nerven und die Band war hochverschuldet. Zur Neufindung zogen sie sich auf den Bauernhof Fresenhagen zurück.
Dort entstand 1975 das weniger parolenhafte „Wenn die Nacht am tiefsten…“. In dieser Phase hing Rio auch mit der aus der Schwulenbewegung entstandenen Theater-Truppe „Brühwarm“ („Statt Flugblattschreiben machen wir mal Theater“beschreibt Corny Littmann, Mitgründer, die Idee) und für zwei CDs steuerte Ton Steine Scherben die Musik bei. Die Zeit ist in einer Ausstellung vom Schwulen Museum „Allein unter Heteros“ festgehalten worden.
„Die Angst, das ist meine Krankheit.“
Rio Reiser wechselte schließlich das Genre und wurde Popstar. Einerseits eine Befreiung, weil er musikalisch mehr machen konnte, andererseits blieb er in der Welt der großen Plattenfirmen fremd. Als nach 1990 alles Linke verdächtig wurde, trat er aus Trotz in die PDS ein. 1996 starb er mit 46 Jahren nach einem Leben, das nie auf Dauer, sondern auf Verbrennen ausgelegt war.
Sein Schwulsein ergänzt den Mythos des rotzigen Rebellen Rio, dessen Weltschmerz, Freiheitsdrang und Sehnsucht riesengroß ist. Die Ergänzung ist die Angst und das Nicht-Dazugehören: Nicht umsonst gibt es die verschämte Formulierung des „anderen Ufers“. In seinem Tagebuch schreibt er mit Anfang 20: „Es ist nicht meine Krankheit, dass ich Männer liebe. Die Angst, das ist meine Krankheit, und die ist lebensgefährlich.“ Und so drängt sich eine Revolutionsparole auf, die leiser ist als Vieles von Ton Steine Scherben: „Der Zweck der Revolution ist die Abschaffung der Angst.“ (Theodor W. Adorno)
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Texte: Mowa Techen