Eine sehr sichtbare Frau: Ursula Sillge und die queere Bewegung in der DDR
Im September 1979 saß Ursula Sillge als einzige Frau mit einer Gruppe im Ministerrat in Ost-Berlin. Um sie herum: Schwule Männer und ein Herr Schäfer, Stellvertreter des Leiters der Abteilung Eingaben. Anlass des Gesprächs: Die Eingabe „Sozialistische Freizeitgestaltung einer Minderheit“. In dieser, die zugleich Beschwerde und Verbesserungsvorschlag an staatliche Behörden war, beschrieb die Gruppe die gesellschaftliche Isolierung und Ausgrenzung der Schwulen und Lesben in der DDR. Sie forderte zugleich Orte zum Treffen. Schäfer war wenig überzeugt und das Treffen kurz. In der Antwort heißt es: „Bei den staatlichen Organen ist in der Frage Homosexualität eine gewisse Reserviertheit vorhanden, weil sie andere gesellschaftspolitische Ziele verfolgen. Das bedeutet, Partnerbeziehungen müssen in erster Linie dem Ziel der Erhaltung der Gesellschaft (Erhaltung der Art) dienen.“
Ursula Sillge: Das Leben einer Ikone
33 Jahre zuvor, 1946, wurde Sillge im Thüringer Dorf Untermaßfeld geboren. Sie machte eine Ausbildung in der Landwirtschaft und arbeitete als Diplom-Agraringenieurin. Das Thüringer Land der 50er und 60er war nicht unbedingt the place to be, um als Frau die eigene Liebe zu Frauen zu entdecken und zu erkunden. In der DDR war die Rechtslage zwar besser als in der BRD - es wurde zunächst „nur“ zur alten, preußischen Version des Paragraphen 175 zurückgekehrt und nicht, wie im nicht-sozialistischen Ausland die Naziversion des Paragraphen übernommen- und schon Ende der 50er wurde die strafrechtliche Verfolgung eingestellt. Doch Homosexualität als Möglichkeit existierte nicht in der Öffentlichkeit der Zeit. Weder in der Schule, noch im Fernsehen, noch in den Zeitungen, noch in den Jugendorganisationen wurde sie erwähnt.
Ursula Sillge verstand dennoch ihr Lieben außerhalb des vorgegebenen Rahmens und machte nach der ersten unerwiderten Liebe kurzerhand Nagel mit Köpfen: Sie ging zur nächsten Ehe- und Sexualberatungsstelle und erkundigte sich, wie sie denn eine Freundin finden könnte. Nach einigem Rumfragen riet ihr ein Psychologe schließlich, in der Zeitung eine Kontaktanzeige für eine Brieffreundschaft aufzugeben.
Gesagt, getan. Zurück meldeten sich 40 Männer und (immerhin!) 3 Frauen. Und Ursula Sillge hatte einen ersten Anhaltspunkt und war nicht mehr die gefühlt allereinzige Lesbe der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in Ostdeutschland. Schließlich zog es sie in die Großstadt. In Ostberlin fand sie mehr als erste Anhaltspunkte, nämlich nach und nach einen schwul-lesbischen Wahlfamilienkreis. Der guckte gemeinsam Rosa von Praunheims „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ und beschloß, dass es Zeit war, sich zu organisieren. Es gründete sich 1973 die Homosexuelle Initiative Berlin (HIB), die erste selbstorganisierte Gruppe von Lesben und Schwulen in der DDR. Mit dabei unter anderem Michael Eggert und Peter Rausch.
Zu dem Zeitpunkt war der Paragraph 175 schon seit fünf Jahren abgeschafft und ersetzt durch den Paragraphen 151, der für gleichgeschlechtlichen Sex ein Schutzalter von 18 Jahren festlegte (für Heterosexuelle waren es 16 Jahre). Eine absurde Situation: Zwar war Sex zwischen erwachsenen Männern nun legal, aber es existierte nun ein diskriminierender Paragraph, der erstmals auch Lesben miteinbezog. Und weiterhin war die gesellschaftliche Isolierung präsent.
"Das ganz persönliche Lebensglück von ein paar Lesben"
Mit Eingaben an staatliche Stellen versuchte die HIB, auf diesen Umstand aufmerksam zu machen. Und immer wieder versuchte sie, Treffpunkte zu schaffen. Den ersten fand sie in einem Gutshaus und Gründerzeitmuseum in Mahlsdorf, das von Charlotte von Mahlsdorf betrieben wurde. Charlotte von Mahlsdorf war Sammlerin, trans, Museumsleiterin und vor allem: Ihre eigene Frau.
1978 plante Ursula Sillge schließlich in dem Gutshaus das erste DDR-weite Lesbentreffen. Informell wurde zwischen Schwerin und Jena, zwischen Cottbus und Quedlinburg dafür getrommelt. Die Volkspolizei bekam davon Wind und bestellte Sillge zur "Klärung eines Sachverhalts" aufs Revier.
Dort versuchte sie dem anwesenden Hauptmann und Major beizubringen, „dass es um das ganz persönliche Lebensglück von ein paar Lesben ginge und nicht um eine politische Verschwörung oder einen Staatsstreich“, so Ursula Sillge in ihrem Buch „Un-Sichtbare Frauen“. Das Gespräch endete mit der Zusicherung, dass das Treffen stattfinden könne. Doch eine Woche später standen zwei Polizisten vor dem Gründerzeitmuseum, als etwa hundert Frauen zu dem Treffen erschienen. Kurzerhand verteilten sie sich auf zwei Kneipen und eine Wohnung und das Treffen fand trotz staatlicher Repression statt.
„Ich wollte, dass Lesben und Schwule ganz normale Bürger sein dürfen und nicht Oppositionelle.“
Die Mitglieder der Bewegung befanden sich in einer tragischen Situation: Vielen von ihnen war hauptsächlich daran gelegen, gesellschaftliche Anerkennung für Lesben und Schwule zu erkämpfen und gleichberechtigt an der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft mitzugestalten. Ursula Sillge: „Ich wollte, dass Lesben und Schwule ganz normale Bürger sein dürfen und nicht Oppositionelle.“ Doch das Ministerium für Staatssicherheit beargwöhnte sie, platzierte Inoffizielle Mitarbeiter*innen und leitete Operative Vorgänge gegen sie ein. Und staatliche Stellen machten ihnen lange Zeit das Leben schwer, wo es nur ging. Ein sexualpolitischer Konservatismus war die Hintergrundfolie des Ganzen.
1982 dann gründete Eduard Stapel in Leipzig den „Arbeitskreis Homosexualität“ unter dem Dach der Evangelischen Kirche. Dem Vorbild folgend gründeten sich in den Folgejahren vergleichbare kirchliche Arbeitskreise, nicht immer von allen Ordinierten gern gesehen. So gab es nun das erste Mal die Möglichkeit, sich mit einem gewissen institutionellen Schutz zu treffen und eigene politische Forderungen zu bekunden.
Ursula Sillge hielt jedoch an ihrem bis dato kirchenfernen Engagement fest, sie mühte sich weiter an einer Reform einer Gesellschaft, die sie dem Grunde nach für nicht falsch eingerichtet hielt. Und dem Finden eines Ortes, wo Lesben und Schwule sein können, ohne staatliche, wie kirchliche Aufpasser*innen. 1987 gelang es ihr schließlich, gemeinsam mit weiteren Mitstreiter*innen auf Dauer in der Greifenhagener Straße 28 den Sonntags-Club zu verankern.
Ein utopisches Nicht-Mal-Ganz-Jahr
Auch in der DDR veränderte sich die Situation, eine unter anderem durch den Druck der aktiven Lesben und Schwulen eingerichtete Forschungsgruppe an der Humboldt Universität erklärte 1985, dass die „die Gruppe homophiler Bürger (=Homosexuelle)“ sich „wie alle Bürger im Sozialismus objektiv und subjektiv wohl fühlen“ sollte und schlug eine Reihe von Reformen vor. In Karl-Marx-Stadt (heute: Chemnitz), Jena und Leipzig fanden Konferenzen zu „Psychosozialen Aspekten der Homosexualität“ statt.
1988 schließlich wurde der Paragraph 151 abgeschafft. 1989 fiel die Mauer und 1990 war die DDR Geschichte, das kurze Nicht-Mal-Ganz-Jahr dazwischen beschreiben Ost- wie Westberliner Queers als utopischen Zeitraum. Ursula Sillge und die Veteran*innen des Sonntags Clubs konnten sich 1990 schließlich als eingetragenen Verein registrieren lassen, noch heute existiert er als Anlaufstelle für Queers im Prenzlberg. Nach der Registrierung zum Verein pausierte sie die Arbeit im Sonntags-Club, schrieb „Un-Sichtbare Frauen“ und wurde in den Folgejahren zu Doktor Sillge.
Bis heute arbeitet sie am bereits 1991 begonnenen Lila Archiv, eine Sammlung zur Frauen/Lesben-Bewegung in der DDR und Osteuropa. Vor einigen Jahren ist sie zurück nach Thüringen gezogen und lebt in Meiningen.
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Text: Mowa Techen